Die andere Sammlung Chinese Scholar's Rocks

19.05.2019 – 30.06.2019

Aus der Not eine Tugend machen, heißt hier: aus einem Kunstdepot einen Ausstellungsraum. Zum zweiten Mal nutzt die Stiftung den in der Mittelzone der Erdgeschoßhalle verbliebenen Freiraum, um Kunstgegenstände aus dem Lager zu nehmen, auszupacken und zu präsentieren. Während bei Erik Sturm mit seinen auf Europaletten gelegten Litfaßsäulentrümmern und den auf Bauzäunen gehängten Fototafeln noch eine gewisse Nähe zur speziellen Ästhetik einer Lagersituation vorhanden war, so verhält es sich mit den aktuellen Exponaten völlig anders.

Von Beginn an standen der Stiftung nicht nur die Sammlungen zur konkret-konstruktiven Kunst als Arbeitsmaterial zur Verfügung, sondern es gab daneben auch die andere Sammlung.
Sie umfasst Gegenstände unterschiedlicher Zeiten und Kulturen, prähistorische Werkzeuge und Idole aus Vorderasien, russisch-orthodoxe Ikonen, Objekte aus Afrika, China, Japan, Mexiko, Neuguinea. In den vergangenen 30 Jahre wurden solche Sammlungsteile in Ausstellungen zusammen mit Werken der konkreten Kunst gezeigt, um so einen umfassenden kulturellen, wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Kontext darzustellen.
Nun wurden aus diesem Fundus acht chinesische Gelehrtensteine ausgesucht und sie stehen nicht auf musealen Sockeln in Verbindung mit der Kunst der Moderne, sondern auf Palettenstapeln in Konfrontation zu der von Transportkisten, Graukartons und Archivschachteln geprägten Umgebung.

Das Interesse an schönen Steinen hat in China eine jahrtausendelange Tradition. Bereits in der Han-Dynastie (206 v.Chr.-220 n.Chr.) werden große, in den Gärten aufgestellte Gartensteine zu wertvollen Sammlungsstücken. Die zweite Kategorie "sammlungswürdiger" Steine, die kleineren Gelehrtensteine tauchen dann in der Song-Dynastie (960-1279) in den Studios der Gelehrten und hohen Beamten auf. Sie eröffnen die Möglichkeit, Natur zu betrachten, ohne in die Natur zu gehen.

Die 'bizarren Steine' gehören nun, neben Werken der Malerei und Schriftkunst, neben Gegenständen aus Jade, Bronze oder Keramik zu den 'zehn Dingen des feinen Geschmacks'. Beurteilt wird die Schönheit und der Wert eines Steins nach Gestalt, Material, Farbe und Oberflächentextur. Interessant ist, dass für die nicht von einem Künstler geschaffenen, sondern von der Natur geformten Steine, keine eigenen Kriterien der Beschreibung und Beurteilung entwickelt werden, sondern dass die Gelehrten dasselbe Vokabular verwenden wie für Werke der Malerei und Kalligrafie. Doch auch wenn ein Stein beurteilt wird wie ein gemaltes Bild, ein 'Kunstwerk' ist er nicht. Wie auch die Gegenstände aus Jade, Bronze, Keramik, Lack oder Porzellan gehört er zur Kategorie des Kunsthandwerks. Denn der Begriff
der "schönen Künste" ist in China ausschließlich den zweidimensionalen Werken der Malerei und Kalligrafie vorbehalten.

Chinese Scholar's Rocks. Als Landschaften, als Tiergestalten, als Abbilder des Universums, wurden sie gesehen, aber auch, und vor allem als rein ästhetische Objekte, an deren bedeutungsfreier Form, Farbe und Struktur sich der Betrachter "erfreuen" kann. Hier trifft sich traditionelles chinesisches Rezeptionsverhalten mit unserem Blick auf die moderne westliche Kunst.

Anders als die ebenfalls in der Stiftung schon gezeigten, chinesischen Bi-Scheiben haben diese bizarren Steine nichts mit der strengen Formensprache der konkret-konstruktiven Kunst zu tun. Doch der wohl wesentlichste Unterschied: ihre Form ist nicht gemacht, sondern geworden, wir sehen nicht Kunst, sondern Natur. Und genau deswegen stehen sie hier. Denn die Betrachtung von Kunst und Natur hat eines gemeinsam, wir können unendlich über sie reflektieren, aber wir können sie nicht endgültig beurteilen.

Text: Gabriele Kübler
Fotos: Manfred Wandel