Voll konkret

15.10.2017 – 25.02.2018

voll konkret
Diese Ausstellung ist anders. Zum ersten Mal in der Geschichte der Stiftung für konkrete Kunst steht hinter der Konzeption nicht eine kreative Idee, nicht eine von vielen theoretischen Möglichkeiten, sondern diesmal basiert das Konzept auf einer praktischen Notwendigkeit.

Das Geschenk
Denn diese Ausstellung hat einen ganz besonderen Grund: ein Geschenk wurde gemacht.
Die Stiftung für konkrete Kunst hat ihre Kunstsammlung der Stadt Reutlingen geschenkt.
Und ein zweites Geschenk wurde gemacht. Manfred Wandel hat ausgewählte Werke aus seiner Privatsammlung der Stadt Reutlingen geschenkt. Die Folge: diese Geschenke müssen überreicht werden. Die Frage: wie überreicht man ein Geschenk mit eintausendzweihundertfünfundvierzig Teilen?

Die Fakten
Eine Etage, ein Raum, eine Fläche von 1000 m², 6 frei stehende Wände.
Das Material: Bilder, Zeichnungen, Plastiken, Installationen, 125 Werke von 40 Künstlern.
Das Ziel: eine Ausstellung, ein Raum voller Kunst, konkrete Kunst, voll konkret.
Der Raum ist groß und doch zu klein, um alle Werke auszustellen. 50 % sind sichtbar, an die Wand gehängt oder gestellt, auf den Boden gelegt, 50 % sind verpackt, in Kisten verwahrt, auf Paletten gereiht, in Graukartons geschichtet, gestapelt. Ausstellungsmodus trifft auf Lagerzustand.

Die Sammlung
Nun ist eine Sammlung nicht nur eine Ansammlung von Dingen, sie ist mehr als die Summe ihrer Teile. Jede Sammlung folgt einer Intention, hat ihre eigene Identität, hat einen ganz bestimmten Charakter. Die Kunstwerke um die es hier geht, wurden in einem Zeitraum von 30 Jahren Schritt für Schritt und sehr bewußt ausgewählt. Teils durch Ankäufe, zum größeren Teil aber durch Schenkungen entstand so die Sammlung Stiftung für konkrete Kunst. Nicht allein die Stifter brachten Kunstwerke in diese Sammlung ein, sondern auch Kunstsammler und Galeristen, vor allem aber die Künstler selbst.
Inspiriert von der besonderen Raumsituation des Gebäudes entstanden über die Jahrzehnte zahlreiche Reihen- und Serienwerke speziell für die Ausstellungsräume der Stiftung.
Das Konzept des Seriellen, die Kombination von Wiederholung und Variation, das planvolle und folgerichtige Vorgehen des Künstlers, ist ein wesentliches Gestaltungsprinzip der konkret-konstruktiven Kunst. Doch die raum-zeitliche Addition von Elementen braucht Platz, übersteigt die Dimension des Privaten, fordert den öffentlichen Raum. So verblieben diese Werke nicht selten auch nach der Ausstellung an dem Ort, für den sie geschaffen wurden.

Damit verfestigte sich immer mehr der Charakter dieser Sammlung, ihr Bestand einer außergewöhnlich großen Anzahl mehrteiliger Arbeiten. Den Grundstein zu dieser Sammlungspolitik legte Manfred Wandel bereits 1988 mit seiner ersten Einstiftung, der Serie von 16 Pastellkreide zeichnungen von Norbert Kricke, eine kunsthistorische Besonderheit, da es sich um die einzige Serie im zeichnerischen Oeuvre des Bildhauers handelt.

Mit dieser Schenkung übergibt die Stiftung daher nicht nur eine große Anzahl von Kunstwerken, sondern sie trennt sich, über das Materielle hinaus, auch von einem wesentlichen Teil ihrer Identität. Denn in dieser Sammlung, in all diesen Gegenständen sind unzählige Erinnerungen gespeichert, Gespräche, Entscheidungen, Begegnungen mit Künstlern und Besuchern, 30 Jahre Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit, 30 Jahre Leben.
Aus diesem Grund ist die Ausstellung voll konkret viel mehr als eine gewöhnliche Schaulagerpräsentation, sie ist ein Reservoir voller Dinge und Gefühle, ein Wendepunkt in der Geschichte der Stiftung für konkrete Kunst, ein Schnittpunkt von Vergangenheit und Zukunft.

Der Ausstellungsraum
Die Menge des Materials bestimmt die Form der Präsentation. Notwendigkeit erzeugt ihre eigene Ästhetik. Doch Verdichtung braucht Distanz. Der Raum muss systematisch aufgeteilt werden, zentimetergenau, in Zonen, in Parzellen, je nach Funktion. Die Wände verbleiben als traditionelle Hängezonen. Aber die Hängefläche reicht nicht aus, vor vier Wände wird eine zweite Wand gestellt, aus Bauzäunen, stabil aber transparent. Zusammen ergibt das 450 m², mehr geht nicht. Erinnerung an vergangene Ausstellungen, Prinzip Mehrschichtigkeit, Gleichzeitigkeit. Eine lange Palettenlinie nutzt die Struktur und Statik der Stahlpfeiler. Darauf stehen eng gereiht viele verpackte und einige unverpackte Kunstwerke. Die dritte Zone wird definiert durch eine Linie aus Arbeitstischen, darauf gestapelte Graukartons, sie enthalten die kleinen Formate. Paletten und Tische ergeben 70 laufende Meter Magazin, Kunst im Standby-Modus. Erinnerung an das Stiftungsdepot. Und als die Verdichtung des Materials schon fast ihr Maximum erreicht hatte, als alle Linien gezogen, die Reihen und Flächen gefüllt waren, es aber immer noch nicht genug war, da wurde auch die letzte Präsentations-
ebene aktiviert, der Boden. Erinnerung an vergangene Rauminstallationen.

Die Ausstellung
Wo ist die Kunst? wird sich der Besucher fragen, denn im ersten Moment meint er, einen Lagerraum zu betreten. Wie eine Mauer verstellen die 50 % Verpacktes, die vollgestellten Tisch- und Palettenreihen seinen Blick.
Das Prinzip voll konkret hat Konsequenzen. Die Kunst ist da, der ganze Raum ist voller Kunst, aber der Besucher muss sie entdecken.

Im Zentrum: ein goldener Raum. Bernard Aubertin, Carré Or, Or Klassik. 100 Teile umfasst die Serie, die Aubertin zwischen 2002 und 2004 in seinem Atelier in der Stiftung gemalt hat. 54 Teile sind zu sehen, zwei Wände, von oben bis unten mit goldenen Quadraten bedeckt. Immer wieder, in ganz unterschiedlicher Form wurde dieses Werk in der Stiftung präsentiert. 2006 in einer langen Linie, im engen Zwischenraum zwischen den Leinwänden standen auf kleinen Sockeln prähistorische Idole und Objekte (7000 Jahre). Ein Jahr später bilden die Goldtafeln mehrere getrennte Wandzonen, Reminiszenz an einen venezianischen Palazzo (Ähnlichkeiten. Hommage à Fortuny). Und schließlich führten 2009 die 100 Teile als roter Faden durch die Ausstellung Das Quadrat in der Sammlung. Und nun der Goldraum. Die Variabilität serieller Werke ist immer wieder verblüffend.

Plein rouge, noch einmal Bernard Aubertin. 1993 beschließt der Künstler nach 30 Jahren noch einmal "sein Rot" zu suchen. Auf 100 Kartons werden in 30 Schichten Kadmiumrot hell, Zinnoberrot und Kadmiumrot dunkel, übereinandergespachtelt. Immer gleich und doch immer anders. Die Präsentation von Plein rouge benötigt eine Fläche von 150 m². Im Sommer 1995, kurz nach Fertigstellung des einhundertsten Kartons, verwandelte sich das Dachgeschoß in einen immensen Rotraum, für den Betrachter eine physische und psychische Grenzerfahrung. In der Ausstellung Raumformat (2000/2001) wurden die 100 Kartons im 2.Obergeschoß in vier Raumzonen auf dem Boden ausgelegt, die Reflexion der monochromen Farbflächen tauchten sogar noch die in einiger Entfernung platzierten gotischen Palmesel in rotes Licht.
150 m² für ein einziges Werk, das war in der aktuellen Ausstellung nicht realisierbar. Und so kann die rote Aubertin-Wand mit den Kartons N° 1 - N° 18 nur sehr bedingt die wirkliche Dimension des Kunstwerks erahnen lassen.
Mit Aubertin könnten wir noch lange so fortfahren, denn hier in Reutlingen befindet sich die weltweit größte Sammlung seiner Werke. Allein die Schenkung umfasst 463 Arbeiten. Darunter sein Hauptwerk Le deuxième mur d'Allemagne (1988-1993), die Serien Monochrome noir cachant un Monochrome rouge, Monochromes noirs, Monochromes gris, Tableaux Blancs, Blanc libre, Hivers, Jeux de Paume. Aber alle diese Bilder sind dem Blick entzogen, verpackt. Alles war nicht möglich. Nur ein paar Einzelwerke tauchen noch hier und da in der Menge auf, zum Beispiel die Trous de clou mit denen Aubertins Epoque de Reutlingen 1988 begonnen hatte.

Doch auch andere Künstler haben ihre Spuren hinterlassen. Gottfried Honegger, der ganz entscheidend an der Entstehung der Stiftung für konkrete Kunst beteiligt war.
Sein Geschenk zur Eröffnungsausstellung 1989 Tableau-relief Z 10201 sprengt jedoch den Rahmen der Schenkungspräsentation und muss deshalb im Erdgeschoss deponiert bleiben.
Eine Entscheidung, von der auch Arbeiten von Douglas Allsop, Jon Groom, Nikolaus Koliusis oder Anton Stankowski betroffen sind. Wie gesagt, der Ausstellungsmodus beträgt nur 50 %.

Weit weniger als 50 %, nämlich 13 : 37 beträgt das Sichtbarkeitsverhältnis der Werkteile von Thomas Lenk. Denn auch seine Arbeiten brauchen viel Raum, allein die drei Teile von Non-mal-ultra (1983) belegen eine ganze Wand. Die Farbkreidezeichnungen Alpha-Omega sind in zwei Stapeln verborgen, nur das A und das N der 26-teiligen Buchstabenreihe sind aufgedeckt. Mehr war nicht möglich. Auch Alpha-Omega bringt die Erinnerung an vergangene Ausstellungen zurück. 1989 Das Ende der Komposition (in langer Linie gehängt), 1993 Die Intimität des Sammelns (rundum im Dachgeschossraum), 1998 Stiftung ganz konkret (auch hier im Stapel) und schließlich 2010 undsoweiter 1,2,3 (auf Palettenreihen stehend im Erdgeschoß).

Die Chance eine Wand, einen Raum allein für sich zu haben, war für die Künstler in dieser Ausstellung gering. Ein Goldraum für Aubertin, ein Grauraum für Aurelie Nemours, ein Streifenraum für Christian Wulffen, damit war die Raumkapazität erschöpft. Und auch hier sind die Werke nicht ungestört, denn in allen drei Räumen ziehen auf dem Boden liegende große, kreisrunde, spiegelnde Edelstahlplatten (Round About von Nikolaus Koliusis) und ein enges Raster von Flachstahlbändern (Block Wand Boden von Christian Wulffen) die Blicke auf sich.

Aus der vorangegangenen Ausstellung Mehrteiler, der - wie wir nun wissen - letzten Ausstellung der Stiftung für konkrete Kunst im 2.Obergeschoss, konnten drei Serien ihren Platz behaupten. Tom Benson (Parallels), Hartmut Böhm (20 x 20 Bleistiftlinien) und Thomas Lenk (Initialis). Doch die einstige Autonomie ist vorbei. Nicht nur die Restflächen ihrer Wände sind mit fremden Bildern besetzt, sondern vor ihnen bauen sich dazuhin die erwähnten Zweitwände auf, ebenfalls belegt mit Werken anderer Künstler.
Und der Boden ist nicht nur mit dafür bestimmten Skulpturen oder Rauminstallationen belegt, nein auch Bilder und Zeichnungen müssen sich mit dieser ungewohnten Position abfinden. Voll konkret.

40 Künstler, 125 Werke, 1245 Teile, weder die Ausstellung noch dieser Text können allen die ihnen gebührende Beachtung und Anerkennung schenken. Wichtige Namen wurden nicht genannt, François Morellet und Vera Molnar, Guido Molinari und John Nixon, Rom Gaastra oder Steffen Schlichter. Künstler, die die Stiftung von Beginn an oder über viele Jahre begleitet haben, die zu Freunden wurden. Kataloge, Fotografien, Künstlerlisten, Werklisten und Ausstellungsetiketten müssen die unvermeidlichen Lücken schließen.
Die eigentlich unmögliche Notwendigkeit, alles auf einmal zu zeigen, hat zu einer extremen Komplexität geführt. Der Besucher muss sich einlassen auf ein Experiment, eine Ausnahmesituation, er muss bereit sein, sich langsam und vorsichtig auf Entdeckungsreise zu begeben.

Die Zukunft
So ganz neu sind diese Forderungen ja nicht. Denn die Stiftung für konkrete Kunst hat in ihren Ausstellungen immer wieder Grenzen ausgelotet, Grenzen überschritten. Dass dies so bleibt, das ist der Wunsch der Schenkenden. Dass die Kunstwerke nicht zum reinen Ausstellungsobjekt werden, sondern - in zweifacher Bedeutung - Anstoß sind. Dass durch sie alte Seh- und Denkmuster durchbrochen werden und mit ihnen neue Verbindungen und Konfrontationen entstehen. Dann haben die von Max Bill genannten "Gegenstände für den geistigen Gebrauch", dann hat die Sammlung für konkrete Kunst Reutlingen eine Zukunft.
Das Material ist da, der Raum ist da.

Gabriele Kübler August 2017
Fotos: Frank Kleinbach