HORST BARTNIG - IN ZAHLEN
Schauen Sie sich um und Sie verstehen mein Problem. Wohin wir auch
schauen in dieser Ausstellung, überall sehen wir ähnliche Dinge. Nicht
ein, zwei oder zehn, nein exakt einhundertsechsunddreißig Bilder hängen
hier an der Wand, die alle irgendwie gleich aussehen.
variationen mit vier mal vier quadraten in vier farben heißt der
Titel dieser Bildfolge, die Horst Bartnig im vergangenen Jahr
geschaffen hat und die hier zum ersten Mal zu sehen ist.
Vier mal vier Quadrate und vier Farben, das klingt, als wäre die
Situation durchaus intellektuell zu bewältigen und theoretisch ist sie
das auch, mit ein wenig Potenzrechnung und Kombinatorik. Doch hier in
diesem Raum, für Sie und für mich, geht es erst einmal um die
Anschauung und da werden wir mit einer Vielheit von vermeintlich
Gleichem konfrontiert, die unser Wahrnehmungs-vermögen gehörig fordert
und meine Erklärungsversuche vermutlich zum Scheitern verurteilt. So
ist es eben mit der Mathematik. Erst fängt es harmlos an, dann gleitet
es fast unmerklich aber unaufhaltsam ins Chaotische. Doch halt, hier
geht es nicht um abstrakte Mathematik, sondern um Kunst. Hier hat ein
Maler eine Frage gestellt, dann Regeln erstellt, mathematisch korrekt,
aber doch nach seinem 'Belieben', und hat dann, ganz ohne Tricks und
Zauberei, ein Bild nach dem anderen gemalt. So funktioniert konkrete
Kunst, und mit der kennen wir uns ja aus, da hilft immer am besten eine
Beschreibung der Fakten.
Alle Bilder sind gleich groß, alle zeigen die Farben Rot, Gelb, Blau
und Grün, die Farbwerte und Farbmengen sind überall identisch. Was sich
verändert von Bild zu Bild ist die Position der Farben. Meist ergibt
ihre Verteilung ein Raster von 16 Feldern, doch hier und da stoßen
gleiche Farben aneinander, verbinden sich zu einem Rechteck, einem
Winkel oder einem größeren Quadrat. Daß die Bildformen variieren
erkennen wir sofort, wie sie dies tun, ist jedoch spontan nicht
nachvollziehbar. Und selbst wenn wir das Programm dann kennen, wenn wir
wissen, daß es um diagonale Spiegelungen der Farbanordnungen geht und
um Drehungen der Module, so ist doch die Zahl der Variationen und
Farbformen zu groß, um alles zu überblicken und zu erfassen. Ein wenig
Magie bleibt, oder sagen wir besser, es ist ein Spiel, ein Seh- und
Denkspiel, das uns Horst Bartnig vorführt, zu dem er die Regeln
festgelegt hat und das wir nun mitspielen können.
Ich glaube, die wichtigste Regel ist: es geht hier nicht um 'das eine
schöne Bild'. Auch wenn uns eines besonders gut gefällt, seine
Farbanordnung, die Formaufteilung, wir können es nicht bei diesem einen
belassen, wir müssen das andere, das daneben, darunter oder schräg
gegenüber auch anschauen, und zwar ganz genau. Denn wir wollen ja
wissen, warum es anders ist. Und dann gefällt uns schon wieder ein
nächstes und wir können uns gar nicht entscheiden, denn wir vergleichen
ständig Dinge, ohne wirklich zu wissen, welches unsere Kriterien sind.
So kommen wir zwangsläufig von einer Variation zur nächsten, von einer
Wand zur anderen, die Zeit vergeht und am Ende könnten wir gerade
wieder von vorn beginnen. Wie beim Spiel. Damit wäre eigentlich schon
alles gesagt, das Spiel müssen Sie, wie so oft bei der konkreten Kunst,
selbst spielen. Aber weil wir Ihnen hier nur ein einziges Werk zeigen,
wenn auch ein ziemlich umfangreiches und für den Künstler Bartnig auch
sehr charakteristisches, weil Sie also vieles oder fast alles, was er
gemacht hat, nicht sehen, möchte ich Sie noch ein wenig bekannter
machen mit diesem Künstler, von dem Sie jetzt schon erahnen können, daß
er Quadrate, Zahlen und Farben liebt, vermutlich ziemlich systematisch
und geradlinig vorgeht, durchaus hartnäckig seine Ziele verfolgt, aber
doch auch ein wenig zaubern kann.
Um ihnen diesen Horst Bartnig vorzustellen, habe ich mir erlaubt auch
ein wenig zu spielen, zu drehen und zu spiegeln und habe aus seiner
Biografie einige Zahlen 'gezogen'. Und zwar Jahreszahlen, die ja nicht
ganz so abstrakt sind wie Zahlen im allgemeinen, sondern die verbunden
sind mit ganz konkreten Ereignissen, Erlebnissen, Begegnungen. Dabei
habe ich mich jedoch auf eine einzige Bartnigsche 'Variation'
beschränkt, das heißt auf 16 Datenfelder, auf 16 Ereignisse, und zwar
auf solche, die in der Biografie von Horst Bartnig mit dem Begriff der
'Erstmaligkeit' verbunden sind. Sie werden gleich verstehen, was ich
meine. Eine Auswahl also, die weder vollständig noch repräsentativ sein
kann, sondern die ziemlich willkürlich daherkommt. Die aber, wie ich
glaube, durchaus Sinn macht, denn jedes 'Erstmals' beschreibt
Veränderung, Neuorientierung, Chance. Und ich hoffe, Horst Bartnig wird
mir diese Manipulation, diesen etwas 'spielerischen' Umgang mit seinem
Leben verzeihen.
Die folgenden Angaben wurden (mit einer Ausnahme) dem Katalog 'horst
bartnig 1968-1989' entnommen, der 1999 anläßlich der Retrospektiven in
Bottrop, Leipzig und Nürnberg erschien.
1960 bartnig bezieht seine erste 1 eigene wohnung, die ihm
gleichzeitig als atelier dient.
1964 erste2 konstruktiv-konkrete arbeiten.
1966 im sommer erster3 aufenthalt in paris.
1968 erste4 konkrete gemälde entstehen.
1971 im sommer des jahres erhält bartnig in dresden erstmals5 die möglichkeit auszustellen.
1971 die naturwissenschaftler sind die ersten6, die den zugang zu seinen arbeiten suchen.
1974 erste7 atelierausstellungen in berlin-baumschulenweg, rinkartstraße 3.
1976 erste8 öffentliche ausstellung in der galerie 'arkade'
1979 in zusammenarbeit mit dem institut für informatik und rechentechnik der akademie der wissenschaften entstehen die ersten9 computergrafiken.
1981
besuch der ausstellung 'moskau-paris' im puschkin-museum in moskau.
bartnig erinnert sich, daß viele russen mit ihm gemeinsam das erste10 mal malewitsch im original sahen.
1984 es entstehen die ersten11 grafischen 'unterbrechungen' mit hilfe des computers, – gedruckt werden sie aber bewußt auf der kniehebelpresse.
1986 in łódź sieht er im museum sztuki erstmalig12 arbeiten von winiarski.
1987 reisen nach westdeutschland und in die schweiz. 13 begegnungen mit max bill in weimar und zumikon/zürich sowie mit richard paul lohse in zürich.
1990 erste14 begegnung mit dem musiker eberhard blum, der im hebbel-theater in berlin schwitters 'ursonate' aufführt.
1991 aus anlaß einer einzelausstellung in der galerie teufel in bad münstereifel/mahlberg entsteht eine erste15 künstlermonografie über bartnig.
2005 erste16 Ausstellung in der Stiftung für konkrete Kunst
Nun habe ich aber doch Zweifel, ob meine 'Variation' nicht zu viele
'Unterbrechungen' hat, ob nicht ganz wichtige Dinge und Ereignisse
fehlen:
die Geburt von Horst Bartnig 1936 in Militsch, Schlesien.
Der selbstgebaute Holzbaukasten, den Bartnig an Weihnachten 1946 von seinem Bruder erhielt.
Die 'Fotoausrüstung mit Dunkelkammereinrichtung'.
Die Kniehebelpresse, auf der er die 'tausendvierundvierzig variationen' gedruckt hat.
Die Arbeit als Theatermaler in Weimar und Berlin.
Die Reisen, die er unternommen hat, die Ausstellungen, die er gesehen, die Bücher,
die er gelesen, die Preise, die er erhalten hat.
Der Versand von Neujahrsgrafiken, den er 1965 begann und bis heute fortführt.
Der 13. August 1961 und der 9.November 1989.
Und vor allem die vielen Personen, die in Bartnigs Biografie
auftauchen, Künstler, Komponisten, Schriftsteller,
Naturwissenschaftler, Sammler und Galeristen. Ich kann nicht alle
nennen. Wen soll ich auswählen? Pablo Picasso, Paul Klee oder Josef
Albers, Luigi Nono, James Joyce oder Franz Kafka, Albert Einstein?
Nein, eine biografische Variation ist genug. Schließlich haben wir hier
136 andere Variationen an der Wand. Und der Titel dieses Textes heißt
schließlich HORST BARTNIG - IN ZAHLEN, und nicht IN WORTEN.
Allerdings muß ich zugeben, daß ich mir zuerst eine andere Überschrift
ausgedacht hatte, VIER HOCH VIER MINUS 120 schien mir äußerst
angemessen, das klang so mathematisch-exakt, so sachlich. Dann fand ich
die Überschrift 136 BILDER SUCHEN EINE WAND auch nicht schlecht, denn
schließlich hatte so ja alles angefangen, am 5. Januar 2005. Da traf
Horst Bartnigs Neujahrspost ein, eine Postkarte mit einem Atelierfoto
mit eben diesen 136 Bildern, die Sie heute hier sehen. Und auf einem
Extrablatt stand der handschriftliche Zusatz "suche
ausstellungsmöglichkeiten für diese 136 bilder", ein sehr konkreter
Satz und ein selbst auf der Postkarte beeindruckendes Werk, was uns
spontan zum Telefon greifen ließ. Und die Konsequenz war, und auch dies
wäre ein möglicher Titel gewesen: HORST BARTNIG IN DER STIFTUNG FÜR
KONKRETE KUNST.
Jetzt komme ich aber schon wieder ins Erzählen und dabei sind Sie doch hier, um Bilder anzuschauen und diese Bilder, die variationen mit vier mal vier quadraten in vier farben,
die kommen ganz gut allein zurecht, ohne mich, ohne viele Worte und
jetzt, nachdem sie gemalt sind, sogar ohne Horst Bartnig. Und ich
glaube, das ist für einen Künstler, zumal für einen konkreten, das
größte Lob.
Gabriele Kübler
Fotos: Nikolaus Koliusis